Das Internet als ein crowdsourced “Überarchiv”?

Anfang Oktober 2012 konnte ich meine diesbezüglichen Überlegungen in einer Konferenz in Sao Paulo (initiiert über Giselle Beiguelman und Ana Magalhães / Universität Sao Paulo in Zusammenarbeit mit Ars Electronica) präsentieren, die sich mit dem Thema der Zukunft von Archiven beschäftigte. Ich experimentierte mit dem Gedanken des Internets als “Über-Archiv”, stellte kurz gegenüber Wissenstransfer damals (am Beispiel Encyclopaedia Britannica) und heute (am Beispiel Wikipedia) und hinterfragte die Macht der Bilder und Illustrationen sowie die Herausforderung aber auch Grenzen der Partizipation diesbezüglich.

 

 

 

 

 

 

 

Ars Wild Card

Archivieren meint sammeln und selektieren, ordnen und konservieren, meint übersetzen und übertragen, meint auswerten, in einen Kontext stellen und verwahren sowie öffentlich zugänglich machen. Archive sind nie abgeschlossen oder vollständig, verändern und erweitern sich meist ständig und sind so komplex, dass man eine konkrete Fragestellung benötigt, um aus Archiven schlau zu werden.

Verfährt das Internet nach ähnlichen Prinzipien?

Das Internet als eine Art Überarchiv zu sehen, das Informationen auf einem Metalevel zur Verfügung stellt (daher das deutsche Wort über –  das gleichzeitig im englischen „above all“ und „about“ bedeutet) muss natürlich mit den realen Bedingungen hinterfragt werden: Was wird uns hier präsentiert und wo kommt diese Information her? Wer speist das Wissen ein und wer steht hinter dieser Information? Von wann ist diese Information? Welche Suchmaschine präsentiert mir was? Nach was kann ich suchen?… Fragen, mit denen man auch bei der Benützung von Archiven konfrontiert ist.

Archive werden geschaffen um das Wissen der Welt in einem bestimmten Bereich zu sammeln. Das Internet schafft auf einer ersten Ebene zumindest Zugang zu Wissen und somit auch zu Sammlungen unterschiedlichster Art. Es kann somit als eine Art Überarchiv einen Einstieg in ein Thema liefern, das dann in lokalen Archiven (lokal meint hier z.Bsp. auch eine Homepage eines Archivs bis hin zum physischen Archiv an einem Ort) weiter und tiefergehend bearbeitet wird.

Neben der Frage der Herkunft von Informationen wie eben gerade erwähnt, erscheint mir jedoch, dass die zentrale Frage des Überarchivs Internet seit der Entwicklung hin zum Web 2.0 lautet: Was kann ich zu diesem Wissen beitragen?

Ein Beispiel.

Wenn man an Partizipation im Internet denkt, so wird Ihnen wir mir wahrscheinlich auf den ersten Gedanken die Online-Enzyklopädie Wikipedia einfallen.  Es ist ein Beispiel das zeigt, wie erfolgreich Partizipation heute funktionieren kann und gleichzeitig wo die Grenzen der Partizipation liegen. Seit Februar 2012 zählt Wikipedia pro Monat 500 Millionen einzelne Besucher, die 18 Billionen Seiten  abfragen ([1]). Als eines der ersten Projekte der neu installierten Kategorie Digital Communities des Prix Ars Electrionica erlangte es auf Anhieb im Jahr 2004 die Goldene Nica des Prix Ars Electronica, die gemeinschaftlich mit dem Projekt „The World Starts with Me“ vergeben wurde. Bezugnehmend auf den damaligen Prix Ars Electronica Katalog ist die Rede von einer Wikipedia Politik, die wegen der großen Vielfalt an Teilnehmer/innen mit ihren unterschiedlichsten Ideologien und aus den verschiedensten Teilen der Welt kommend sich um ein neutrales Wissen bemüht (Katalog pdf). Auch wenn es Wikipedia nicht um eine demografische Spiegelung des Internets an sich geht, so zeigt ein aktuelles Forschungsprojekt des Oxford Internet Institutes aus dem Jahr 2011, dass Wikipedia ein zutiefst westliches und vor allem ein europäisches Bild der Welt beschreibt, wenn auch mit einem deutlichen Nord-Süd Gefälle. (Mit fast 776.000 Artikeln wurden in Europa doppelt so viele Artikeln verfasst als die Vereinigten Staaten mit 342.000 Wikipedia-Artikeln, gefolgt von Asien mit ca. 125.000 Artikeln, Ozeanien ca. 38.000 Artikeln, Afrika 28.000 Artikeln, Süd Amerika 27.000 Artikeln und Antarktika 8.000 Artikeln ([2]).

The Distribution of Wikipedia Articles

Einige Vergleiche der Enzyklopädie Britannica und Wikipedia ergaben ähnliche Qualitätsstandarts, nur dass Wikipedia einfach schneller ist. Während ein gedrucktes Lexikon erst nach Jahren eine Revision erfährt, werden bei Wikipedia Fehler rasch erkannt und im Schnitt von lediglich 2 Minuten redigiert (so der österreichische Jurist und Hochschullehrer Viktor Mayer-Schönberger vom Oxford Internet Institute bei einer Tagung in Wien Anfang September 2012.) Zusätzlich möchte ich jedoch erwähnen, dass die quantitative, überproportional häufige Darstellung von Randthemen und Randbereichen der (eher westlich orientierten) Gesellschaft, die in Wikipedia dokumentiert werden, einen wichtigen Beitrag zum Zeitgeist und Alltagswissen heute sowie ein weiteres herausragendes Merkmal von Wikipedia darstellen.

Wenn man sich jedoch nun vorstellt, dass Wikipedia hauptsächlich aus Einträgen von Europäern und Nordamerikanern erstellt wird, die aktiv diese Wiki erarbeiteten und weiterführen, und spiegelt sich der Rest unseres Globus als passiver Nutzer und weniger als aktiver Gestalter ab, so ergibt sich ein Bild, das nachvollziehbar aufzeigt, wo Bilder und Definitionen allgemeiner Gültigkeit geschaffen werden.

Ein Künstlerpaar aus Tel Aviv / Israel, Galia Offri und  Mushor Zer-Aviv, hat sich mit dieser Problematik beschäftigt: Nicht nur, dass sie wissen wollten, mit welche visuellen Informationen die Online Enzyklopädie arbeitet, sie untersuchen auch seit 2010 wie und warum Illustrationen auf Wikipedia diskutiert und behalten oder verworfen werden. Bereits im Dezember 2007 veröffentlichte The New York Times in einem Artikel, dass Geldmittel von US $20,000 als Spende des MIT Professors Philip Greenspun zur Verfügung standen, um Schlüssel-Illustrationen von Künstlern bezahlen zu können.

Philip Greenspun schrieb in einem email:

“In comparing the Web versions to the print versions, I noticed that the publishers’ main contribution to the quality of the books was in adding professionally drawn illustrations,” … “It occurred to me that when the dust settled on the Wikipedia versus Britannica question, the likely conclusion would be ‘Wikipedia is more up to date; Britannica has better illustrations.´” [3]

Diese Aktion, dass Illustratoren beauftragt werden sollten, blieb bei den Wikipedians nicht unumstritten, da in einem gemeinschaftlich erarbeiteten Werk wie Wikipedia nicht kommerziell agiert werden kann.  Das Projekt Wikipedia Illustrated zeigt jedoch, dass es vor allem auch noch um ein anderes Phänomen geht: subjektives Empfinden. Können Textbeiträge so objektiv wie nur möglich gestaltet werden, so treffen Illustrationen eine sinnliche Komponente in uns. Wie allgemein gültig können Illustrationen sein?  Wie technisch oder künstlerisch sollen oder dürfen sie sein? Die Grenzen verschwinden.

Die Künstlerin Galia Offri und Mushon Zer-Aviv schufen mit „Wikipedia Illustrated“ ein Projekt, bei dem Sie 26 Illustrationen (eine Illustration pro Buchstabe unseres modernen lateinischen Alphabetes)  erarbeiteten. Sie nahmen sich die Freiheit nach Artikeln zu suchen, die ihnen größtmöglichen Spielraum in der Gestaltung des Bildes ließen. Einträge wie „Ash Heap of History“, „Doppelgänger“ „Fight-or-flight-respnse“ oder “Philosophical zombie” wurden ausgewählt, um illustriert zu werden. Die Reaktionen der Wikipedia community  haben nicht lange auf sich warten lassen. Interessant dabei ist nicht nur wie unterschiedlich die Reaktionen waren, sondern auch um wieviel emotionaler das Diskutieren von Bildbeiträge als das der textbasierten Beiträge von sich ging. Es zeigte sich, dass die künstlerische Identität der Beiträge nicht negiert werden kann und dass genau dies die Irritation der Wikipedians hervorrief. Es stellte sich dir Frage für die Künstler, ob denn Bilder erst “historisch” werden müssen, um distanziert, objektiv und faktisch zu wirken und den Wikipedia-Richtlinien zu entsprechen?[4]

Da mittlerweile bei Wikipedia Geschichte geschrieben wird, wäre es sehr interessant zu analysieren, welche Bildbeiträge es geschafft haben, dass sie in die online Enzyklopädie aufgenommen werden. So findet man auf der englischen Wikipedia-Seite zum Schlagwort „Doppelgänger“ das Bild von Galia Offri, sowie auch auf der spanischen Seite.

Doppelgänger, als ursprünglich deutsches Wort, ist auf der dazugehörigen deutschen Wikipedia-Seite nur als Textbeitrag angelegt und nicht illustriert, wie auch auf den meisten anderssprachigen Artikeln zum selben Wort.

Nachdem Wikipedia nach Sprachen und nicht nach Regionen eingeteilt ist (Anm.: was ich im Übrigen jedoch als ein äußerst interessantes Experimentiermodell halte, wenn es um Darstellung von Weltwissen geht!), habe ich auch auf der portugiesischen Seite gesucht, aber keinen Bildeintrag dazu gefunden. Auf der französischen Seite fand ich ein Icon, das herkömmlich auf Theater verweist.

 

Die russische und ukrainische Seite zeigt eine frühe Photographie des englische Schauspielers Richard Mansfield, der von Henry Van der Weyde 1895 abfotografiert wurde, da er eine Doppelrolle spielte in „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ und zu sehr großer Bekanntheit gelang und großem Erfolg damit erlangte.

Es ist beeindruckend und man kann Stunden über Stunden investieren, um das Bildmaterial auf anders sprachigen Seiten zum selben Wort zu vergleichen.  Als vergleichende Beispiel noch abschließend dazu die Illustration auf der tschechischen Wikipedia-Seite zum Schlagwort  Doppelgänger: eine Zeichnung eines nackten Mannes, die auf die Darstellung auf einer goldenen Plakette zurückgeht, die in den interstellaren Raumsonden  Pioneer 10 und 11 angebracht ist und 1972 in das Weltall startete, um etwaige Außerirdische von der Existenz der Menschen und ihrer Position im Weltall zu beschreiben. Auch wenn auf der ursprünglichen Plakette Mann und Frau nackt nebeneinander abgebildet waren, so hat der tschechische Artikel zum Schlagwort „Doppelgänger“ die Abbildung des nackten Mannes aus dem NASA-Bild extrahiert, kopiert und nebeneinander gestellt. (Der Wikipedia-Artikel heisst ja auch „Doppelgänger“ und nicht Doppelgängerin“ – wenn Sie verstehen was ich meine;-)

Hat das Informationszeitalter mit Personen wie Otlet und Wells seinen Ursprung im Wunsch von Demokratisierung von Wissen, indem Zugang zu Informationen ermöglicht und mehr und mehr erleichtert wurde, so befinden wir uns mittlerweile im Partizipationszeitalter. Wir können mitbestimmen, was auf die weltweiten Server eingespeist wird und was wie vermittelt wird. Ein Recht und Privileg unserer Zeit, das wir nutzen sollten. Auch wenn wir wissen, dass wir nicht die Inhaber dieser Server sind und es nicht in der Hand haben, was wirklich in die Geschichte eingeht, wir haben zumindest den Fuss in der Türe.


[1] Graham, M., Hale, S. A. and Stephens, M. (2011). Geographies of the World’s Knowledge. Ed. Flick, C. M., London, Convoco! Edition. Retrieved September 17th, 2012, from http://www.rsnz.govt.nz/news/talks/scisoc/Maori-cram.pdf

[2] Graham, M., Hale, S. A. and Stephens, M. (2011). Geographies of the World’s Knowledge. Ed. Flick, C. M., London, Convoco! Edition. 22-23

[3] http://www.nytimes.com/2007/12/03/technology/03wiki.html?_r=0

[4] Vgl.  Zer-Aviv,  M. (2012). Wikipedia Illustrated. Retrieved July 20, 2012, from http://www.wikipediaillustrated.org/

 

 

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